Von Libellen und Abschieden
Heute ist einer dieser Tage. Die Hitze brodelt – als wäre man in einem Kochtopf gefangen. Eine Libelle saust durch die Luft und will gerade auf einer Seerose landen, die am Flussufer ruht und ihr Schutz verspricht. Im nächsten Moment durchschneidet ein Zischen die Stille: Ein Barsch schnellt aus dem Wasser. Sein Maul schnappt auf wie eine Falle. Und er verschlingt das Insekt in einem Stück. Ebenso plötzlich wie er aufgetaucht ist, taucht der Fisch auch wieder ab und schon bald bewegt sich nichts mehr. Die Wasseroberfläche liegt da wie ein Blatt Papier.
„Das war’s wohl mit der Libelle”, stellt der Ameisenbär fest, der die Szene gemeinsam mit seinen Freunden beobachtet hat. Der Elefant und die Maus nicken nachdenklich. Während die nächsten Minuten verstreichen, macht keiner einen Mucks. Aber alle starren auf die Seerose. Nach einer Weile behauptet der Elefant: „Bestimmt ist sie jetzt im Himmel. Oder sogar in der Hölle, wenn es eine böse Libelle war.”
Der Ameisenbär und die Maus gucken ihren großen Freund verdutzt an. Die Stirn in Falten gelegt wie eine zerknüllte Serviette schnaubt der Ameisenbär schließlich: „So ein Quatsch! Ganz sicher nicht.” Die Miene des Elefanten verfinstert sich. Um der anschwellenden Wut den Weg abzuschnüren, zwirbelt er seinen Rüssel. „Ach ja? Na, dann lass mal hören, was du glaubst”, fordert er seinen langschnäuzigen Freund heraus. Ein paar Wolken ziehen auf und sprenkeln den bis eben noch malerisch blauen Himmel. Um sie herum tanzt das Gras im Wind. Dann türmt sich der Ameisenbär auf wie eine Ritterburg. „Natürlich passiert rein gar nichts nach dem Tod. Oder kann sich einer von euch daran erinnern, was vor dem Leben war?”, keift er.
Mittlerweile hat sich ein dichter Wolkenteppich vor die Sonne geschoben: Es wird immer dunkler. Jetzt tritt die Maus aus dem Schatten und räuspert sich. Der Elefant lässt sie also auf seinen Rücken krabbeln und sie nimmt darauf Platz, als wäre es ihr Thron. Von oben herab betrachtet die Maus nun den Ameisenbären. „Was für eine trostlose Vorstellung! Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Genau genommen redet ihr beide Schwachsinn”, verkündet sie und wirft die Pfoten in die Luft. Auf einmal schießen Lichtblitze durch die Gegend. Ein Donner grollt. So laut, dass die drei erschaudern.
Einen Augenblick später jedoch ist es wieder ruhig und die Maus fährt fort: „Wenn man stirbt, kommt man in keinen sagenumwobenen Himmel. Und noch viel weniger geschieht einfach nichts.” Sie hält kurz Inne und lässt ihren Blick über das Flussufer schweifen. „Für die Libelle beginnt jetzt ein neues Leben. Vielleicht wird sie als Baum oder sogar als Tiger wiedergeboren.” Ihre beiden Freunde prusten los. „Das ist lächerlich”, faucht der Ameisenbär und verschränkt die Arme vor seiner Brust wie einen Panzer. „Ja, aber deine Theorie ist es genauso!”, posaunt der Elefant.
Es dauert nicht lange: Der Streit bricht aus wie ein Vulkan. Die drei bespucken sich mit Vorwürfen und feuern ihre Meinung aufeinander ab. Als sie sich gerade anbrüllen, dröhnt es plötzlich in ihren Ohren: Laut wie eine Schreckschusswaffe donnert und kracht es über den Köpfen der Tiere. Und der Himmel speit eine Flut an Tropfen auf sie hinab. Die drei Freunde zucken zusammen. „Verdammt, schnell weg hier!”, krächzt der Ameisenbär und flitzt los. Auch der graue Riese mit der kleinen Maus auf seinem Rücken stapft hinterher, so schnell er kann. Pfützen gurgeln. Sträucher schaukeln. Und die Tiere hechten durch Gestrüpp, während das Gewitter sie wie ein Konzert mit einem Rasseln und Brummen beschallt.
Einige Zeit später entdecken sie einen Baum, der seine dichten Kronen wie ein Zelt über sie spannt. Erschöpft lassen sie sich darunter nieder. Der Elefant wringt seine Ohren aus, als wären es zwei Waschlappen. Auch der Ameisenbär schüttelt sich, um sich von der Nässe zu befreien. Dabei beobachtet er das kleine Nagetier, das scheinbar reglos auf dem Buckel des Elefanten liegt. „Möchtest du dich nicht auch abtrocknen?”, erkundigt er sich. Als die Maus nicht reagiert, sieht er sie beunruhigt an. „Maus“, stammelt er, „ist alles okay?” Zerknirscht vor Sorge bückt sich daraufhin der Elefant. Er lässt das kleine Tier von seinem Rücken purzeln. Mit seinem Rüssel stupst er die Maus vorsichtig an und streicht über ihr nasses Fell. Doch sie rührt sich nicht mehr. „Mäuschen”, flüstert er. Eine Träne perlt von seiner Wange.
Die beiden schweigen – gefühlt endlos lange. Mittlerweile rieselt es nur noch. Der Regen tropft gleichmäßig von den Zweigen. Dann traut sich der Ameisenbär es auszusprechen:
„Sie ist tot, oder?”, wispert er kaum hörbar. Die Stimme des Elefanten jault auf wie ein Feuerwerkskörper: „Wie konnte das nur passieren?” Der Ameisenbär schluchzt. „Es war wohl einfach alles zu viel”, wimmert er, „sie hat doch so ein kleines Herz.” Danach ist es still.
Dass ihre Freundin nicht mehr lebt, können die zwei nur schwer begreifen. Aber es tut weh. Der Kloß in ihrem Hals wird immer dicker. Und auch die Worte, die sie sich vor dem Unwetter an den Kopf geworfen haben, spuken noch in ihren Ohren. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen. Selbst die tiefschwarzen Wolken verblassen allmählich. Irgendwann ist es der Elefant, der zuerst etwas sagt. „Glaubst du wirklich, die Maus ist jetzt im Nirgendwo? Dass da nichts ist?”, fragt er zögerlich. Der Ameisenbär zupft an einigen Grashalmen, bis er seinen Leidensgenossen schließlich mustert. „Nein, eigentlich nicht. Das möchte ich mir überhaupt nicht vorstellen für die liebe Maus”, gibt er zu. Der Elefant nickt. „In der Hölle ist sie sicher auch nicht”, murmelt er nach einer Weile. Dann blickt er in den inzwischen wieder klaren Himmel. „Ich spüre einfach nichts! Ich weiß nicht, ob sie dort oben ist”, klagt er. „Vielleicht ist sie ja jetzt eine Blume“, überlegt der Ameisenbär, „oder eine Libelle.” Ein Schmunzeln huscht über seine Lippen. Im nächsten Moment nimmt der Elefant seinen Freund fest in den Arm. Dort sitzen sie nun eine ganze Weile und wiegen sich, froh darüber den anderen zu haben.
Nachdem sie die Maus gemeinsam begraben haben, kann es sich der Ameisenbär nicht länger verkneifen. „Wie können wir uns denn nur sicher sein, wo die Maus jetzt ist?”, fragt er. Seine Augen kullern wie Murmeln. „Gar nicht”, gesteht der graue Riese letztendlich, „aber ich wünsche mir, dass es ihr dort gefällt.” Dann nimmt er den Ameisenbären an die Hand und die beiden lassen sich von den zurückgekehrten Sonnenstrahlen wärmen.
von Alisa Hodzic