Schwarz-Rot-Braun?
Wie die fehlende Bedeutung der deutschen Flagge symbolisch für unser Ringen mit der nationalen Identität steht – und damit rechten Stimmen die Deutungshoheit überlässt.
Eine Reportage von Paula Weiß, Sarah Freytag und Oliver Schmidt.
Schwarz.
Rot.
Gold.
Egal wohin man blickt, alles ist Schwarz-Rot-Gold.
Als ich aus dem Einkaufszentrum komme, wird die Flut der angebotenen Fanartikel abgelöst. Abgelöst von der Flut der bereits gekauften Fanartikel.
Alle zwei Jahre verwandelt sich Deutschland für wenige Wochen plötzlich in ein Meer aus Flaggen, Klamotten und sonstigem Ramsch in unseren Nationalfarben, soweit das Auge reicht.
Und alle zwei Jahre versuche ich herauszufinden, warum der Anblick von Menschenmengen mit deutschen Fahnen so ein unbehagliches Gefühl in mir auslöst.
Importierte Symbole statt eigener Identität
Dass unsere Nationalmannschaft heute spielt, lässt sich leicht an der enormen Dichte der deutschen Farben in der U-Bahn nach Hause erkennen. Und erneut wundere ich mich über den per Knopfdruck aktivierten deutschen Nationalstolz, der nach Ende des Turniers immer zusammen mit all den Flaggen wieder ganz hinten im Keller verschwindet.
Und auch in den Regalen fehlt nach kurzer Zeit wieder jede Spur von deutscher Identität.
Währenddessen begegnen mir die Symbole anderer Länder täglich – egal ob Union Jack, amerikanische Stars und Stripes oder die französische Trikolore, alles davon ist in Deutschland öfter anzutreffen als die eigene Landesflagge.
Menschen, die in ihrem eigenen Land die Flagge ihres Landes zeigen, ist das nicht das Normalste der Welt? Ob Italien, Frankreich oder gerade Amerika, Flaggen sind Kulturgut, stiften Identität und machen Menschen stolz. Nur bei uns in Deutschland sieht man sie selten. Und wenn doch, rufen sie sehr gemischte Reaktionen hervor.
Liegt das nur an den Erinnerungen an die letzten 30er und 40er Jahre, oder steckt mehr hinter dem schüchternen Nationalstolz der Deutschen? Und warum ist unsere Flagge für dieses Thema so beispielhaft?
Typisch deutsch: Hauptsache zweckmäßig
All diese Fragen schwirren mir durch den Kopf, als ich nach dem Einkaufen Zuhause ankomme. Als ich die Maske abnehme, fällt mir ein, wann ich das letzte Mal in Deutschland viele Menschen mit Flaggen gesehen habe: auf den Querdenken-Demonstrationen. Nur waren das keine Schwarz-Rot-Goldenen Flaggen, sondern die Schwarz-Weiß-Roten Flaggen des Kaiserreichs.
Merkwürdig, denke ich mir, normal sind es doch gerade rechte Gruppen, die als Erste die deutsche Flagge schwenken. Und jetzt wollen selbst die unsere Flagge nicht mehr verwenden?
Das Thema lässt mich nicht mehr los. Wofür steht unsere Flagge eigentlich? Wie kann es sein, dass nur wir Deutschen mit unserer Flagge keine positive Identität verbinden können? Immerhin wurde diese in keinem der Weltkriege offiziell verwendet.
Wikipedia erklärt mir schnell: Alle drei Farben unserer Flagge haben ihren Ursprung Anfang des 19. Jahrhunderts, in den Befreiungskriegen gegen Frankreich. Schwarz-Rot-Gold ergab sich aus reiner Zweckmäßigkeit – inspiriert von den Farben der Soldatenuniformen, die aus einfachsten Materialien bestanden. Die verschiedenen Farben wurden erst im Nachhinein symbolisch aufgeladen.
Kurz halte ich inne, lehne mich zurück und schaue zur Decke. Unsere Flagge hat tatsächlich keinen ideologischen Hintergrund? Erklärt das etwa das gespaltene Verhältnis der Deutschen zu Schwarz-Rot-Gold?
Des Kaisers neue Farben
Ursprünglich hatte die Flagge also wenig Bedeutung – die muss dann wohl in der Zwischenzeit entstanden sein?
Ich begebe mich zurück auf die Suche.
Später wurde sie vor allem von den Befürwortern der Demokratie und eines gesamtdeutschen Staates verwendet. Vom SWR erfahre ich, dass die Flagge in den uns gewohnten Farben nach den deutschen Einigungskriegen durch die Schwarz-Weiß-Rote Reichsflagge ersetzt wurde. Die Flagge des Kaiserreichs setzte sich zusammen aus den Farben der Hansestädte und Preußens.
Zwar gab es auch Stimmen für Schwarz-Rot-Gold – allerdings reichten diese von Nationalisten über Demokraten bis zu Linksliberalen. Eine verbindende Idee steckte auch hier nicht dahinter.
Feste politische Lager formierten sich erst in der Weimarer Republik hinter beiden Flaggen. Diese Lager definierten sich jedoch nicht über ihre gemeinsamen Ansichten, sondern eher über ihre starke Ablehnung der Gegenseite.
Die Anhänger von Schwarz-Rot-Gold stellten sich vor allem gegen die Anhänger von Monarchie und Faschismus, welche die Farben des Kaiserreichs beibehalten wollten. Letztere führten bei ihrer Machtergreifung 1933 die Kaiserfarben auch gleich wieder ein, und ersetzten diese kurz darauf mit der Hakenkreuzflagge. Nach dem Krieg führten sowohl BRD als auch DDR wieder die Schwarz-Rot-Goldene Flagge ein, die DDR ergänzte diese lediglich mit ihrem kommunistischen Staatswappen.
Es spricht für sich, wieviel Identität eine Flagge besitzt, die zwei ideologisch so entgegensetzten Ländern gleichzeitig dienen kann.
Identität zum Mitnehmen
Die deutsche Flagge steht sinnbildlich für das Problem der deutschen Identität. Sie entstand aus praktischen Gründen, und wurde meist eher als Gegenstück zu anderen, ideologischen Entwürfen gewählt. Daher fehlt der Flagge ein Stück weit die Geschichte. Ihr stärkstes übergreifendes Thema ist der Wunsch nach einem vereinten Deutschland, der seit über 200 Jahren mit der deutschen Trikolore verbunden ist.
Daher fällt es extremen Gruppen auch immer wieder so leicht, die Deutungshoheit um die deutsche Flagge an sich zu reißen und so die fehlende Bedeutung von Schwarz-Rot-Gold für einen Großteil der Bevölkerung negativ zu belegen.
Einigkeit und Recht und Freiheit?
Ich klappe den Laptop zu.
Gerade weil man im Alltag so selten auf die deutsche Flagge trifft, sticht die Euphorie während der Europameisterschaft umso mehr heraus. Das merkwürdige Gefühl, welches ich dabei empfinde, stammt allerdings weniger von einer negativen Konnotation der Flagge selbst – sondern eher dem Fehlen einer Bedeutung insgesamt.
Ohne ein gemeinsames positives Motiv kann sich niemand mit einer Flagge identifizieren. Deshalb vor dieser zurückzuschrecken ist allerdings auch keine Lösung, da man so nur extremen Stimmen Platz einräumt.
Die fehlende historische Bedeutung kann aber auch eine Chance sein.
Wir haben die Möglichkeit, der Flagge unsere Bedeutung zu geben.
Eine Bedeutung, die vereint und für ein modernes, offenes Deutschland steht.
Es ist an uns, die fehlende Bedeutung mit dem zu füllen, was gut an Deutschland ist.
Und mit dem, was besser sein kann.