Torte ohne Opa
eine Kindergeschichte über das Trauern und Trösten
von Paula Weiß
Frühs schlich ich durch die Katzenklappe ins Haus und machte mich auf den Weg in die Küche. Vielleicht hatte jemand meinen Napf schon zum Frühstück gefüllt. Auf dem Weg hörte ich Mama Anja weinen. Ganz leise. Der Weg in die Küche führte an ihrer Bürotür vorbei. Ich drückte meinen Kopf gegen die angelehnte Tür, bis der Spalt groß genug war, dass ich hindurchschlüpfen konnte. Sie saß mit einem Taschentuch in der Hand an ihrem Schreibtisch. Ich strich ihr um die Beine. Sie zuckte kurz zusammen. „Minka! Ich hab‘ dich gar nicht kommen hören.“ Sie schniefte. Ich sprang auf ihren Schoß und von da auf den Schreibtisch, auf dem noch mehr Taschentücher lagen. Sie beugte sich vor um mich zu streicheln und ich stupste leicht mit meinem Kopf gegen ihre Stirn. Sie drückte kurz ihr Gesicht in mein Fell. Im Gang hörte man plötzlich Schritte. Sie schrak hoch und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ach hier steckst du!“ Papa Markus betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er beugte sich zu seiner Frau herunter und umarmte sie ganz fest. „Ich dachte du wärst eins der Kinder“ murmelte sie. „Für die zwei wird es schwer genug. Da müssen sie mich nicht auch noch weinen sehen.“ Sie meint Maja und Theo – die Kinder von ihr und Markus. Und die Enkel von Opa Leo, dem Papa von Anja. Doch der ist jetzt nicht mehr da. Opa Leo hatte das Zimmer am Ende vom Flur. Aber auch erst die letzten Monate in denen er nicht mehr die Treppen steigen konnte. „Ach Anja“, sagt Papa sanft. „Die zwei sind doch nicht blöd. Die merken doch, dass es dir nicht gut geht. Und ich bin ja auch noch da. Ich hab‘ mir ein paar Tage Urlaub genommen. Wir schaffen das. Ich sehe du hast schon einen kleinen Tröster.“ Er lächelte und tätschelte mir den Kopf. „Na du hast bestimmt Hunger! Ich geb‘ dir mal dein Frühstück.“ Das hörte ich doch gerne. Ich schleckte kurz über Mama Anjas Hand, hüpfte vom Schreibtisch und folgte Papa Markus in die Küche.
Er füllte mir Futter und Wasser in meine Näpfe und machte sich einen Kaffee. Essen wollte er nicht, auch er war betrübt. Alle mochten Opa sehr. Er hatte immer gute Laune und sein rundes Gesicht war voller Falten, die durchs viele Lachen noch tiefer wurden. Nie war er laut oder böse geworden, wenn eins der Kinder mal etwas kaputt gemacht hatte – er wusste immer eine Lösung. Und wenn er sich zum Tüfteln einen ganzen Nachmittag in seinen Schuppen vergrub – am Ende funktionierte es besser als davor. Mit einer Sache aber konnte man ihn immer herauslocken: Haselnuss-Schoko-Sahnetorte. Die war nämlich seine große Schwäche.
Die Küchentür öffnete sich. Maja schlüpfte hindurch. Papa und sie sahen sich einen Moment lang an. „Opa ist gestorben, oder?“ Papa nickte langsam. „Hmm.“ Er rutschte auf der Küchenbank ein Stück beiseite, um Maja Platz zu machen. Sie setzte sich neben ihn. Ich hopste auf ihren Schoß. Gedankenverloren kraulte sie meinen Kopf. „Wenn du weinen willst, dann lass es ruhig raus. Ist gesund“, sagte Papa. „Schon gut. Ich will gerade nicht weinen.“ Sie zögerte kurz. „Ist das falsch? Ich meine, Opa hatte ganz schlimme Schmerzen und er hat zu mir gesagt, wenn er mal stirbt, dann hat er die nicht mehr. Und dass er dann bei Oma ist. Er hat sie doch so vermisst. Außerdem hat er versprochen, dass er auf einer Wolke sitzen wird und auf mich aufpasst. Und ich weiß nicht, ob Opa mich von seiner Wolke aus weinen sehen will.“ „Opa auf der Wolke. Das kann ich mir gut vorstellen.“ Papa schmunzelte kurz. „Und du musst nicht weinen. Das macht jeder anders, wenn jemand stirbt. Da gibt’s kein richtig oder falsch“, nickte er. Maja war erleichtert. „Ich glaube ich kümmere mich um Theo. Er wird bestimmt viel weinen. Für ihn ist es das erste Mal, dass jemand stirbt. Bei Oma war er ja noch zu klein um sich zu erinnern.“ „Das ist ganz toll von dir Maja. Du bist eine super große Schwester.“ „Und du kümmerst dich um Mama, ja?“ „Natürlich. Zu Befehl!“, rief er wie ein Soldat. Jetzt mussten beide kurz lachen.
Maja hatte recht. Theo weinte viel. Er rannte schluchzend die Treppe nach oben in sein Zimmer. Ich huschte unauffällig hinter ihm ins Zimmer. Theo warf sich auf sein Bett und weinte noch mehr. Irgendwann, als keine Tränen mehr in Theo übrig und seine Augen ganz rot waren, bemerkte er mich. „Opa ist tot. Das heißt er ist jetzt weg – für immer sagt Mama. Aber für immer ist doch so lange! Das geht doch nicht!“. Seine Stimme war ganz piepsig und zitterte. Er weinte wieder. Mein Fell wurde ganz nass, aber das war egal. Ich wollte nicht, dass Theo auch weint. Auch ich war traurig, dass Opa jetzt tot ist – auch wenn es mich nicht überraschte. Als ich vor ein paar Jahren als kleines Kätzchen bei Familie Feldbach einzog, hat er mir oft heimlich Leckerlis gegeben, wenn gerade keiner hingesehen hatte. Gerne habe ich neben ihm auf der Küchenbank geschlafen. Aber in letzter Zeit konnte er nicht mehr so weit und schnell laufen wie davor. Er lag viel im Bett und schlief. Da er nicht mehr viel in der Küche saß, habe ich ihm in seinem Bett Gesellschaft geleistet. Auch gestern Abend. Bevor er eingeschlafen ist, hat er nochmal ganz sanft meinen Kopf getätschelt und mein Kinn gekrault. Genau da, wo ich es am liebsten habe. Ich habe über seine Nase geleckt und konnte sehen, dass er lächelte. „Tschüss Minka – pass‘ mir gut auf die anderen auf. Irgendwann sehen wir uns wieder“, hat er geflüstert. Opa wusste, dass er bald sterben wird. Ich blieb noch bis morgens bei ihm. Als es langsam hell wurde atmete er nur noch ganz wenig und ganz leise.
Die Zeit verging und ganz langsam ersetzte die Fröhlichkeit wieder die Trauer. Bis auf ein kleines Stückchen – das haben wir alle noch in uns drin. Aber es gehört jetzt irgendwie dazu. Wir gewöhnten uns an ein Leben ohne Opa – natürlich ohne ihn zu vergessen. Wir redeten viel über ihn. Sein Zimmer blieb erst mal so wie es war. Ausräumen oder umbauen konnte man es immer noch. Das eilte für niemanden.
Nach einem Jahr kam Papa nachmittags mit einer großen Schachtel vom Einkaufen zurück. „So meine Lieben! Mama hat im Garten den Tisch schon gedeckt, denn“ – er öffnete die Schachtel – „heute machen wir ein Kaffeetrinken zur Erinnerung an Opa!“ In der Schachtel war eine Haselnuss-Schoko-Sahnetorte. Genau wie Opa sie immer mochte. Mit kleinen Sahnetupfern oben drauf. Der Tisch im Garten war wundervoll gedeckt. Ein bunter Blumenstrauß stand in der Mitte. Unter den hat Mama das Bild von Opa Leo, das seit seinem Tod in der Küche auf der Fensterbank stand, gestellt. Alle bekamen ein Stück Torte und ich ein kleines Schälchen Sahne. Am Tisch erzählten wir Geschichten über Opa. Auch wenn sie alle schon kannten. Über Opa gab es viel Lustiges zu erzählen. Und auch wenn es kurz wieder wehtat, dass er nie wieder kommt, war es doch ein bisschen so, als wäre er da. Wo er auf jeden Fall immer sein wird, ist bei uns allen im Herzen. Da geht er auch bestimmt nicht verloren. Niemals.